laut.de-Kritik

"Ja, ich nehme Drogen. Ja! Ja! Und ihr nehmt auch Drogen!" Das kuriose Leben eines Ex-Hustlers.

Review von

Man nennt ihn den "Black Godfather", weil er von Anfang an dabei war, als Berry Gordys Soul-Label Motown in den 60er Jahren die Musikwelt revolutionierte. Nach zahlreichen Hits ("Shake A Tail Feather", "Bacon Fat") als Songwriter und Produzent in Chicago und Detroit ließ sich Andre Williams von Ike Turner nach Kalifornien locken und versumpfte im Drogenrausch. Als er Mitte der 90er Jahre wieder aufwachte, zog ihn Jon Spencer auf die Livebühnen zurück und seither ist Williams ein Underground-Club-Phänomen.

Einen besseren Stoff für einen Film könnte es eigentlich nicht geben. Das fanden auch US-Regisseurin Tricia Todd und ihr Ehemann Eric Matthies, die "Agile Mobile Hostile" in die Wege leiteten. Von März 2006 bis Juli 2007 begleitete das Paar den Sänger in seinem Alltag auf Schritt und Tritt. Dazu gehören nicht nur Bandproben und Shows in Chicago oder in Kroatien, sondern auch Besuche bei Radiosendern, bei der Mardi Gras-Parade in New Orleans oder in Andres zwischenzeitlichem Zuhause in einem Altersheim-Appartment, aus dem er nach einem viertätigen Knastaufenthalt wegen Drogenbesitzes ausziehen muss. Danach wohnt er im Motel 6.

"Ich werde euch den richtigen Weg zeigen, weil ich so viele falsche gegangen bin", sagt Andre Williams. Leider reicht seine Lebenserfahrung für dieses Wissen noch immer nicht ganz aus. Todd und Matthies portraitieren einen 72-jährigen Haudegen, für den es keine andere Rentenoption zu geben scheint, als pausenlos Konzerte zu geben und Alben aufzunehmen. Dass er gerade bei den Studioaufnahmen das Tempo anzieht, hat einen einfachen Grund: "Ich muss das durchziehen, damit ich ein paar Sachen zu verkaufen habe, wenn ich das alles nicht mehr tun kann."

"Agile Mobile Hostile" ist in gewisser Hinsicht das Gegenteil der Lemmy Kilmister-DVD-Saga "Lemmy", denn für Andre ist kein Happy End vorgesehen. Zwar folgt er ebenso wie der Motörhead-Frontmann seinen eigenen Gesetzen, kämpft aber sowohl gegen seine Sucht als auch gegen die sich stets am Horizont abzeichnende Gefahr der Armut.

Der Film spielt ausschließlich im Hier und Jetzt, so dass die Leistungen des jungen Andre Williams leider viel zu kurz kommen. Matthies und Todd blenden ein paar Single-Cover ein und spielen frühe Songs an, das wars. Der Name Ike Turner fällt im gesamten Film nicht und Berry Gordy darf auch nicht als Zeitzeuge auftreten. Dass nicht einmal ein Jon Spencer nur einen Kurzauftritt erhält, der ihn nach eigenen Worten "aus der Gosse gerettet hat", wie Williams im laut.de-Interview 2006 betonte, erscheint geradezu kurios (die laut.de-Redakteure finden leider keine Erwähnung in der Doku).

Stattdessen besucht der Ex-Hustler das heutige Motown-Museum, erklärt zunächst das Haus in seinen früheren Umrissen und stellt sich dann dem Security-Mann am Einlass vor, der ihn selbstverständlich nicht erkennt. Gekränkt verlässt der Mann, der Stevie Wonder erst zu seinem Namen verhalf, das Anwesen. Andres Motto: "Ich war in keinem Scheiß-Museum, ich bin das Scheiß-Museum!"

Man könnte hier leicht einen falschen Eindruck bekommen, denn Williams hängt nicht seinen Erfolgen von einst hinterher. Er fühlt sich blendend in seiner Haut. Er nimmt bis heute Platten auf, um seine Miete zu bezahlen und gibt Konzerte, "um Ärsche zu kicken". Das mit der Miete wird allerdings zum Problem, als er nach intensiven Bacardi-Wochen mit Lungenentzündung, Alkoholvergiftung und Herzproblemen ins Krankenhaus eingeliefert wird.

Doch Williams lässt sich nur kurz beeindrucken und entsagt dem Alkohol immerhin für sechs Monate. Was die Drogen angeht, spricht er eine ebenso deutliche Sprache wie seinerzeit in unserem Interview. "Ja, ich nehme Drogen. Ja! Ja! Und ihr nehmt auch Drogen", lacht er an einer Stelle in die Kamera. Man kommt nicht umhin, an den Satz eines Fans aus der "Lemmy"-Doku zu denken: "Wenn irgendwann die Atombombe fällt, werden nur Kakerlaken und Lemmy überleben." Oder Andre.

"Agile Mobile Hostile" erschien 2010 in den USA, hierzulande wurde er gar nicht veröffentlicht. Man kann ihn allerdings auf Bloodshot Records bestellen und erhält noch ein Album gratis dazu. Gegenwert: Eine Rock'n'Roll-Geschichte par excellence und nebenbei hilft man einem alten Mann, die Miete zu bezahlen.

Trackliste

  1. 1. Agile Mobile Hostile - A Year With Andre Williams

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Andre Williams

Eine treffendere Umschreibung hätte sich wohl nicht einmal der Meister selbst ausdenken können, um sein ruhmreiches musikalisches Erbe in knappen Worten …

Noch keine Kommentare